Der Löwe ist los“ hallt der Schreckensschrei im beliebten Buch von Max Kruse aus dem Jahr 1952. Im Zoo der kleinen Stadt hatte der Tierarzt vergessen, den Käfig abzuschließen. Die Einwohner haben Angst und verstecken sich in ihren Häusern, bis sich die Kinder mit dem Löwen anfreunden und das Abenteuer seinen Lauf nimmt.

Heute lautet der Schreckensruf „Das Internet ist los“, und wieder haben Einwohner Angst und verstecken sich in ihren Häusern. Was tun mit den neuen Medien? Genau damit beschäftigen  sich Politiker in Rheinland-Pfalz in der Enquete-Kommission „Verantwortung in der medialen Welt“. Sie nahm ein paar Monate vor der Bundestags-Enquete „Internet und digitale Gesellschaft“ die Arbeit auf (wir berichteten im 1&1 Blog) und geht jetzt nach rund einem Jahr auf die Zielgerade. Am heutigen Mittwoch wird der Entwurf des Abschlussberichtes im Mainzer Landtag diskutiert. Ein kurzer Blick hinter den Vorhang: Kommt niemand zu Schaden, und wird der Löwe am Ende gerettet? 

Wer in 60 Jahren diesen 243 Seiten dicken Bericht zur Hand nehmen wird, spürt sicher noch die heutige Begeisterung für die „rasante Entwicklung von neuen technologischen Errungenschaften im Kontext des Internets“. Vieles davon wird dann selbstverständlich und unspektakulär erscheinen. Über Begriffe wie „Prosumer“ oder „Web 2.0“ mag man dann schmunzeln, denn hätte man die Versionen weiter hoch gezählt, wäre selbst das Web 30.0 schon veraltet. Auch manche Sorgen über den Fortbestand von Moral und Werten werden vielleicht verwunderlich wirken, ebenso die Details zum gesetzlichen Verbraucherschutz mittels Buttons und mehrstufigem Bestätigungsschutz bei Internetkäufen.

So liest sich der Bericht auch als spannendes Dokument des Umbruchs und des Wandels, den wir gerade miterleben und deren Zeitzeugen wir sind. Sowie als Agenda, was derzeit als politische Aufgabe angesehen wird.

An einigen Stellen, wie den Kapiteln zu Wissen und Medienkonvergenz, ist die Handschrift der Mainzer Johannes-Gutenberg-Universität zu erkennen. Kern ist hier die Verpflichtung zur Erschließung und Bewahrung von Wissen. Es bedürfe interdisziplinärer Zusammenarbeit „um diesen 'Kulturwechsel' durch die Medienkonvergenz vollständig zu erfassen“.

Zwei weitere Schwerpunkte sind schnelle Internet-Anschlüsse (gerade in ländlichen, bisher weniger gut versorgten Gebieten) sowie die Unterstützung und Ausbildung von Medienkompetenz als vierter Kulturtechnik.

Unter Medienkompetenz werden vier Themen und Aufgabenfelder gesehen, die stark vereinfacht lauten: 1) Wo finde ich was im Internet? 2) Wie kann ich etwas im Internet machen? 3) Wo und wer bin ich im Internet? 4) Wie baue ich Teile für das Internet?

Rheinland-Pfalz verweist im Bericht auf zahlreiche Programme, wie den mec Club sowie  Fortbildungsprogramme für Erzieherinnen und Erzieher mit über 1000 Teilnehmern, das Landesprogramm „Medienkompetenz macht Schule“ des pädagogischen Landesinstituts zur Fortbildung von Lehrern, die Medienkompetenznetzwerke MKNs,  den Modellversuch DIMIG sowie weitere Programme.

Positiv klingt, dass zur Ausweitung der Bürgerbeteiligung unter den Stichwort eParticipation vorgeschlagen wird, politische Prozesse und Verwaltungshandeln transparenter zu gestalten und Informationen leichter zugänglich zu machen.

Die größten Schwächen finden sich aus Sicht erfahrener Internet-Nutzer in Passagen zu jenen Vorhaben, welche die Bevölkerung vor dem Internet schützen sollen. Die grenzüberschreitende Nutzung des Internets wird hier oft nicht ausreichend bedacht. Was nützt der strengste Datenschutz, wenn deutsche Nutzer etwa anschließend Web 2.0 Angebote nur noch in den USA nutzen (ohne jeglichen gesetzlichen Schutz ihrer Daten in Deutschland)?

Insbesondere aber an Stellen, wo es um Zuweisung von Verantwortung geht, ist der Enquete-Bericht den sonst üblichen politischen Diskussionen meilenweit voraus. Anstatt dem Ruf nach technischer Kontrolle, finden sich viele sehr ernsthafte Ansätze, um Medienkompetenz für ein freies Netz zu vermitteln – nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern auch für Pädagogen und ältere Menschen. Über Stoppschilder, vor der Legislaturperiode noch als Placebo bei kriminalistischer Abstinenz feilgeboten, sprach niemand mehr ernsthaft. Eindimensionale Schuldzuweisungen, etwa der Klassiker „Computerspiele schafften das Vorbild für Amokläufer an Schulen“, fehlten völlig.

Das entspricht dem ernsthaften Verlauf der Beratungen, die von fast immer sehr differenzierten Bewertungen, vielen guten wissenschaftlichen Beiträgen  und einer großen Lernbereitschaft der Abgeordneten geprägt war. Ich habe seit über 15 Jahren mit dem Internet zu tun und stellte zu meinem Erstaunen fest, dass sich die Internet-Kompetenz der Abgeordneten innerhalb weniger Monate weit über das durchschnittliche Wissen der mit ihnen üblicherweise kommunizierenden Vertreter gesellschaftlicher Gruppen gesteigert hatte. In manchen Sitzungen wurde der Sitzungsverlauf schon als enttäuschend empfunden, weil man von den geladenen Gästen diesmal nichts wirklich Neues mehr lernen konnte. Ein Beleg dafür, dass politisch Handelnde hier bereit waren zuzuhören, und wie der technologische Wandel der neuen Medien den durchschnittlichen Bürger vor Herausforderungen stellt, und manchen sogar überfordert. Die unter dem Begriff „Medienkompetenz“ zusammengefassten Fähigkeiten zur Bewältigung dieses Umbruches könnten dabei helfen. Auch darüber mag man in 60 Jahren lächeln – jetzt sollten wir die Verantwortung wahrnehmen, für die aus dem Fortschritt erwachsenden Chancen zu werben.

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